Auftakt in Thüringen

Es dauert einige Zeit, bis klar ist, was die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze 1989 für die Wohnungswirtschaft bedeutet.
Schwerwiegender scheint 1990 zunächst das Auslaufen des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes zu sein. Der Skandal um das gewerkschaftseigene Wohnungsunternehmen „Neue Heimat“ hat 1982 das umstrittene Konzept der staatlichen Förderung in Verruf gebracht und führt zur Abschaffung des Gesetzes. Damit entfallen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen ab 1990 steuerliche Vorteile, sie sind allerdings auch nicht mehr den gesetzlichen Beschränkungen unterworfen.
Für die GSW sind die Auswirkungen insgesamt gering: Sie profitierte wenig von den Vorteilen, litt aber auch nicht unter den wirtschaftlichen Beschränkungen, da sie ohnehin keine Tochterunternehmen oder unternehmerischen Erweiterungen plante. Wie andere kirchliche Wohnungsunternehmen hält die GSW jedoch unabhängig von den gesetzlichen Veränderungen auch nach 1990 an der Gemeinnützigkeit als eigenem Anspruch fest. Das Ziel der Gesellschaft ist unverändert die gute Versorgung mit Wohnraum, insbesondere für Familien mit geringem Einkommen. Wo möglich, hält die GSW an niedrigen Mieten fest, statt die nach der Gesetzesänderung eröffneten Spielräume für Erhöhungen zu nutzen.

Zu einer Zäsur wird die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze für die GSW dennoch bald. Die Gesellschafter haben Kontakte in Thüringen aufgenommen. Zwischen Mainz und Erfurt bestehen historisch gewachsene Verbindungen, die auch während der DDR-Zeit gepflegt werden. Schnell wächst die Idee, in Ostdeutschland auch bei der Wohnungsversorgung zu unterstützen – zunächst mit Beratung.
Der Bedarf ist groß, denn die Lage der staatlich reglementierten Wohnungswirtschaft ist verheerend. Mit etwa sieben Millionen Wohnungen verfügt die untergehende DDR zwar mengenmäßig über einen angemessenen Bestand, doch er ist im Vergleich zu anderen Industrieländern der „älteste und desolateste“, wie es 1990 in Berichten heißt. Bei ersten Besuchen in Erfurt und anderen ostdeutschen Orten beschließen Vertreter der GSW, in Thüringen tätig zu werden, dann geht es Schlag auf Schlag. 1990 klären GSW-Geschäftsführer Johann Schell und einige Aufsichtsratsmitglieder bei einem Termin mit Bischof Wanke in Erfurt formale Fragen, Ende 1991 treten das Bischöfliche Amt Erfurt-Meiningen und der Caritasverband Thüringen der GSW bei. Als 1992 ein erstes Büro mit zwei Mitarbeitern in Erfurt eröffnet wird, haben die Bauarbeiten für ein Pfarrgemeindezentrum in Bad Frankenhausen bereits begonnen.

Meinolf Föckeler, der als erfahrener Planungsleiter aus Frankfurt nach Erfurt gegangen ist und dort die Geschäftsstelle leitet, verfolgt in Thüringen ein ähnliches Programm wie in Hessen und Rheinland-Pfalz: eine gute Mischung aus dem Bau von Eigenheimen, dem Erweitern eines Bestands an Mietwohnungen sowie zusätzlich Sozialbauten und Gebäude für das Bistum und einzelne Pfarrgemeinden. Föckeler erinnert sich an die besondere Aufbruchstimmung in diesen Jahren. Die Entwicklung in Thüringen nimmt dank seines motivierten und wachsenden Teams Fahrt auf, und gute Kontakte zu kommunalen und kirchlichen Institutionen helfen dabei, Projekte schnell zu verwirklichen.
Ein besonderer Schwerpunkt der GSW-Aktivitäten liegt in der Region Eichsfeld, der traditionsreichen katholischen Enklave im protestantisch geprägten Thüringen. In Heilbad Heiligenstadt werden bereits 1993 vier Reiheneigenheime fertig gestellt. Da die GSW weitere Projekte in der Umgebung erwartet, eröffnet sie dort im Frühjahr 1993 eine kleine Geschäftsstelle mit drei Mitarbeitern, die die Verwaltung und Bauleitung vor Ort übernehmen. Auch die Landeshauptstadt Erfurt gilt als Standort mit Potenzial, die GSW realisiert am Stadtrand in Marbach ein erstes größeres Projekt mit 29 Reiheneigenheimen. Sie beginnt zugleich einen Bestand an Mietwohnungen aufzubauen, zum Teil indem sie in Erfurt und anderen thüringischen Städten Häuser kauft und saniert. Außerdem werden in Erfurt, Bad Langensalza und Heilbad Heiligenstadt eigene Häuser geplant, denn der Bedarf an bezahlbaren Mietwohnungen ist groß.
Es ist ein besonderes Ereignis, als das bisherige Bischöfliche Amt Erfurt–Meiningen 1994 von Papst Johannes Paul II. zum Bistum erhoben und Dr. Ulrich Neymeyr zum Bischof wird. Als Gesellschafter ist Erfurt nun auch formal den anderen Bistümern in der GSW gleichgestellt. Das hat für die tägliche Arbeit allerdings keine Auswirkungen, die kirchlichen Gesellschafter nehmen keinen Einfluss. In Thüringen ist der Umfang der Geschäftstätigkeit geringer als in Westdeutschland, doch die Dynamik der Nachwendejahre in Ostdeutschland färbt auf das gesamte Wohnungsunternehmen ab.
Zwischen Euphorie und Ernüchterung
In Frankfurt verändert sich ebenfalls einiges: 1994 übernimmt Heinrich Rose das Amt des technischen Geschäftsführers. Gemeinsam mit Johann Schell führt er das Unternehmen mit seinen knapp 120 Beschäftigten. Aufstockung und Modernisierung des eng gewordenen Geschäftshauses in der Blumenstraße werden 1994 abgeschlossen. In zeitgemäß eingerichteten Räumen arbeitet die GSW nun an Neubauten und der Bestandsentwicklung, insbesondere im Ballungsraum Rhein-Main sowie rund um Limburg, Mainz und Fulda.
Die GSW modernisiert und baut Häuser für kirchliche und private Auftraggeber und weitet ihre Aktivitäten bei den Sozialbauten, insbesondere bei Seniorenwohnungen und Pflegeheimen, aus. Betreutes Wohnen gehört dabei zu den neuen, zukunftsträchtigen Modellen. Sozialbauten bieten „dankbare Daueraufgaben“, stellt die GSW Mitte der 1990er Jahre fest. Auf anderen Geschäftsfeldern wird es schwerer: Bauland verteuert sich oder fehlt ganz, es werden weniger Eigenheime fertig gestellt und bei den Mietwohnungen ist die öffentliche Förderung zu knapp. Der frei finanzierte Bau von Mietwohnungen ist kaum möglich, da sich die Kosten nicht über die Mieteinnahmen decken lassen.

In der Entwicklung der GSW spiegelt sich die abflachende Konjunktur der gesamten Wirtschaft wider, auf den Boom der Nachwendejahre folgt die Ernüchterung. Ähnlich wie in der Ölpreiskrise der 1970er Jahre sieht sich die GSW erneut in einer krisenhaften Situation. Galt die Baubranche zu Beginn der 1990er Jahre noch als „Konjunkturmotor“, ist sie einige Jahre später zur „Bremse“ geworden. Bei der GSW kommen einige Faktoren zusammen. Neben der allgemeinen konjunkturellen Schwäche und dem Mangel an Bauland und staatlicher Förderung sind es auch steigende Kosten für die Erneuerung und Instandhaltung des Bestands. Die Fluktuation der Mieter ist an manchen Orten hoch, Wohnungen lassen sich nur im guten Zustand vermieten, Interessenten erwarten „ansprechende und modernisierte Wohnungen“. Die GSW investiert Millionenbeträge – auch im eigenen Interesse. Nur ein gut gepflegter Wohnungsbestand sichert langfristig eine gute Vermietbarkeit, der Bestand bildet den wirtschaftlichen Kern des Unternehmens.
Als die GSW 1999 ihr 50-jähriges Bestehen feiert, blickt sie trotz mancher Probleme optimistisch in die Zukunft. Sie hat mehr als 14.000 Wohneinheiten fertig gestellt, rund die Hälfte als Eigentumsmaßnahme – von der Kleinsiedlerstelle der 1950er Jahre bis zur urbanen Eigentumswohnung in den 1990er Jahren. Und sie baut weiter: Geplant sind für das Jahr 2000 unter anderem große Bauprojekte im Rhein-Main-Gebiet und in Thüringen. Neue Aufgaben im Bereich der städtebaulichen Planung kommen hinzu, die GSW erhält ab 1998 unter anderem Aufträge für die Entwicklung von Baugebieten insbesondere in Thüringen. Vor allem hat die GSW große Ambitionen, in den 2000er Jahren zu wachsen, u.a. mit dem Bau energiesparender Gebäude wie Passivhäusern.
Mit klarem Profil

Neubauten bleiben trotz aller Hindernisse das Kerngeschäft der GSW, sie schließt allein im Jahr 2000 knapp 250 Projekte in gewohnter Vielfalt ab: ein großes Pflegeheim im hessischen Stadtallendorf, ein Mehrfamilienhaus in Erfurt mit 17 Wohneinheiten, eines in Neu-Isenburg mit 62 Wohneinheiten, der Ausbau eines Dachgeschosses in Frankfurt. Dazu kommen Einfamilienhäuser in allen vier Bistümern.
Die GSW beteiligt sich außerdem mit ihren Planungsleistungen an großen städtebaulichen Projekten wie dem Wiederaufbau der Unterneustadt in Kassel. Gemeinsam mit anderen Wohnungsunternehmen bebaut sie hier eine Brachfläche an der Fulda unter dem Motto „Neues Leben am Fluss“. Das Projekt ist in vieler Hinsicht innovativ: Es basiert auf einem Bürgerdialog und bezieht ortsansässige Architekten und die Kommune mit ein. Die GSW geht hier einen großen Schritt zum Projektentwickler und erkennt, dass die Übernahme solcher komplexen städtebaulichen Projekte die Zukunft sichern helfen könnte.

Die wirtschaftliche Situation scheint allerdings um 2002, als Andreas Ruf die kaufmännische Geschäftsführung übernimmt, prekär. Angesichts der schwachen Konjunktur ist die Nachfrage im Bauträgergeschäft rückläufig, die GSW kämpft mit hohen Kosten und sieht sich zu einem schmerzhaften Schritt gezwungen: Rund 30 Mitarbeiter verlassen 2003 das Unternehmen, da insbesondere die Planungsabteilung nicht ausreichend ausgelastet ist. Das Wohnungsunternehmen nimmt organisatorische Anpassungen vor, hält aber an ihrem zentralen Ziel fest. So erweitert sie 2004 ihren Bestand an öffentlich geförderten Wohnungen in Wiesbaden, baut Miet-Einfamilienhäuser in Kassel, schafft Wohnraum für Studierende in Mainz und plant Einfamilienhäuser in der Nähe von Frankfurt. Voraussetzungen hierfür sind günstige Grundstücke, die teilweise im Erbbaurecht aus kirchlichem Eigentum übernommen werden.